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München ist nur einmal im Jahr: Ein Besuch in der roten Zahnarztpraxis

München ist nur einmal im Jahr: Ein Besuch in der roten Zahnarztpraxis

 Bericht

Freitag, der 26. August 2016. Ich sitze im Wartebereich des Lufthansa-Terminals an unserem gemütlichen Bremer Flughafen und denke nach. Die Straßenbahnlinie 6 hat mich gewohnt entspannt an mein Ziel befördert und von dem einen oder anderen Ü30-Allesfahrer wurde ich bereits mit einer Dose Beck’s in der Hand freundlich in der Bahn gegrüßt. Bremen ist eben doch ein Dorf. Auch die Sicherheitskontrollen am City Airport der Hansestadt passen ins Bild, denn anstehen und warten musste hier vermutlich noch nie ein Fluggast. Ich nehme mir eigentlich jedes Mal vor, erst eine Viertelstunde vor dem Boarding zu kommen, weil man scheinbar sowieso nicht zu spät sein kann. Doch nun warte ich schon wieder mehr als eine Stunde auf den Aufruf, mich von meinem Platz zu erheben. Ich sehe mich um: Schicke Business-Männer im Anzug auf dem Weg zum nächsten großen Deal sitzen genau so um mich herum wie das alte Rentnerpärchen, welchem die bayrische Landeshauptstadt wohl noch im heimischen Bilderalbum fehlt und sichtlich aufgeregt in regelmäßigen Abständen die Toilette aufsucht. Dann taucht Prominenz auf: Arnd Zeigler setzt sich mit seinem Jutebeutel, auf dem er selbst abgedruckt ist, genau vor mich. Seine Begleitung: Stephan Schiffner, der sowohl bei Radio Bremen, als auch in der Sportschau sein Brot verdient. Ich versuche das Gespräch zu verfolgen, aber alles kann ich nicht verstehen. Im Grunde gibt Zeigler nur das wieder, was er bereits am Vortag in schriftlicher Form dem Weserkurier als Kolumne vorgelegt hat: „Skripnik ist vielleicht nicht der beste Trainer der Welt, aber er passt in dieser Situation und sollte eine faire Chance mit der neuen Mannschaft bekommen.“ So oder so ähnlich. Eine andere Sache fasziniert mich gerade viel mehr: Sagt man nicht, dass Menschen im Fernsehen immer 5 Kilo dicker aussehen, als in der Realität? Das scheint in diesem Fall irgendwie anders herum zu funktionieren. Aber da man nicht mit Steinen schmeißen sollte, wenn man auf einer sehr gläsernden Wartebank sitzt, verwerfe ich den Gedanken. Das Priority Boarding beginnt und die beiden stehen nicht auf – scheinbar doch noch Leute von uns, sympatisch.

Der Flug verläuft ohne Zwischenfälle und auch die anschließende Zugfahrt gestaltet sich nicht sehr ereignisreich. Doch mein Ziel heißt heute nicht direkt die Münchener Innenstadt, sondern der Starnberger See, wo eine gute Freundin auf einen Kurzbesuch wartet. Am dortigen Bahnhof, der direkt am malerischen Ufer liegt, angekommen, scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Zwei Rentner diskutieren im feinsten bayrischen Dialekt die Vergangenheit von Bettina Wullf und dass sie sich eigentlich schämen sollte. Auf dem See ist ein einsamer „Stand-Up-Paddler“ unterwegs. Mir fällt auf, wie unglaublich dämlich diese „Sportart“ tatsächlich aussieht, während der etwas erbärmliche Anblick jedoch in der wirklich traumhaften Kulisse des Starnberger Sees komplett untergeht. Da kann man schon verstehen, wieso die Kaiserin „Sissi“ und auch der Kaiser Beckenbauer hier gerne viel Zeit verbrachten bzw. verbringen. In der Ferne blitzen die Gipfel des Allgäu und kurz vergesse ich, dass heute noch ein Fussballspiel stattfinden soll.

Also geht es raus aus der Idylle in die überfüllte Münchener U-Bahn, in der siegessichere Teenies in (rotem) Götze-Trikot bereits lautstark die „Super-Bayern“ beschreien. Ich glaube in keiner anderen Stadt tragen so viele Fans ein Originaltrikot ihres Vereins, wie in München. In Bremen schreckt allein der Trikotsponsor „Wiesenhof“ die Hälfte der Anhängerschaft von einem Kauf ab – der Rest findet andere Wege, um die mittlerweile 70 Euro zu investieren. Am Stadion quält man sich an etlichen Schwarzmarkthändlern vorbei bis zum großen Schlauchboot Allianz Arena. Aufgrund der jüngsten Ereignisse scheint man in Bayern vorsichtig geworden zu sein: „Keine Rucksäcke über dem Format A4“ heißt es da auf der digitalen Anzeige. So etwas sieht man wohl auch tatsächlich nur in Deutschland. Aber so ganz einig scheinen sich die Ordnungskräfte nicht zu sein: Ist ein Stoffbeutel, der ausgebreitet in voller Pracht das unerwünschte Format überschreitet, in zusammengerollter Form noch immer mit einem Stadionverbot belegt? Diskussionen. Über das Spiel wird aber auch gesprochen: Von Werder ist nicht viel zu erwarten, schließlich haben die Bremer sich in der erste Runde im Pokal mal wieder ordentlich blamiert. Gegen die Sportfreunde aus Lotte war bereits Schluss. Und auch die letzten Auftritte in München machen keine Hoffnung auf ein spannendes Spiel: 0:5, 0:6 und 0:5 hießen die Ergebnisse der letzten drei Jahre. Die Wettanbieter zahlen eine Quote von 30.0 aus, sollte Werder heute gewinnen. Ob da wohl wirklich Leute drauf wetten? Prödl sagte einmal: „München ist wie ein Zahnarztbesuch. Muss jeder mal hin. Kann ziemlich wehtun. Kann aber auch glimpflich ausgehen.“ In den letzten Jahren war das hier immer eine Wurzelbehandlung, bei der die Betäubung leider gerade nicht auf Lager war.

Ich begebe mich zur Haupttribüne und warte auf das, was da kommen mag. So ein bißchen besonders ist so eine Saisoneröffnung ja schon, denn nachdem Karl Heinz Rummenigge „seine“ Olympiafahrerinnen stürmisch mit endlosen Küsschen und Blumensträußen beglückt, Jerome Boateng zu „Deutschlands Fussballer des Jahres“ ausgezeichnet wird und sich in dem ganzen Gewusel irgendwo auch noch die beiden Teams aufwärmen müssen, stürmen Kinder auf den Rasen und bilden mit Vereinswappen aller Bundesligisten ein nettes Bild, um auch den Fernsehzuschauer, der mittlerweile ebenfalls dabei ist, zu zeigen: Es geht wieder los! Ein bißchen kribbelt es jetzt schon, denn vielleicht geht ja irgendwie doch was, für die Männer in Grün und Weiß. Es ist dieses seltsame Gefühl, welches kurz vor jedem Spiel in alle Haarspitzen fährt und das man dann nach Abpfiff ernüchtert schnell wieder als jugendliche Naivität erklären muss. Die Spieler laufen ein und Tim Bendzko singt die Nationalhymne. Den hatte man auch schon fast wieder vergessen. Leider wirkt der Sänger genauso deplatziert, wie die Nationalhymne selbst, die von beiden Fanlagern kräftig übertönt wird. Kann es jetzt endlich los gehen? Fast! Es folgt eine Schweigeminute für die Opfer der Erdbebenkatastrophe in Italien. So furchtbar all diese Ereignisse auch sind: Muss man wirklich mittlerweile vor jedem Fussballspiel eine Schweigeminute durchführen? Für mich wirkt dieser Zusammenhang immer wieder so befremdlich, wie in der Halbzeitpause in den Tagesthemen den gesamten Schrecken dieser Welt in vier Minuten abzufeuern und anschließend zurück zum Spaß über zu leiten. Da passt doch irgendetwas nicht zusammen. Trotzdem ist es immer wieder beeindruckend und fast schön, wie leise 75.000 Menschen von einer auf die andere Sekunde werden können.

So. Nun aber! Anpfiff. Werder mit einer Mannschaft, die in dieser Konstellation noch nie zusammen gespielt hat und es so schnell wohl auch nicht wieder tun wird. Auf der anderen Seite die eingespielte Millionentruppe aus München. Der Unterschied wird relativ schnell klar: Bayern dominiert, lässt Werder keinen Raum zum atmen und immer, wenn Werder dann doch mal den Ball erobert, erscheinen meterhohe Fragezeichen über den Köpfen der Grün-Weißen, die den Ball planlos nach vorne bolzen. Bloß Weg damit. Dass so keine eigenen Torraumszenen zustande kommen, versteht sich von selbst. Werder versucht das 0:0 so lange wie möglich zu halten. Dumm nur, dass die Münchener bereits nach 13 Minuten 2:0 führen und es nicht danach aussieht, als würden sie ihre Angriffsbemühungen zeitnah einstellen. Dass dies auch das Halbzeitergebnis ist, verdankt Werder Wiedwald, der Latte und dem Pfosten, die jeweils einmal für die Abwehr glänzend einspringen. Nach dem Seitenwechsel das selbe Bild: Werder ist ohne die Verletzten Pizarro, Kruse, Bargfrede und Garcia vollkommen ohne Konzept. Bayerns Neuzugang Hummels erlebt einen ruhigen Tag: Er trabt bei Standardsituationen hier und da gemütlich in den Bremer Strafraum und hat auch nach unerfolgreichen Versuchen keine Eile, um in die eigene Hälfte zurück zu kehren. Werder drischt den Ball entweder direkt zu Neuer oder ins Aus. Und so kommt es, dass sich die Bayern in einen kleinen Rausch spielen, bei dem sie immer wieder phasenweise Tempo rausnehmen, es in den richtigen Momenten wieder erhöhen und Werder somit vier weitere Tore einschenken. Bemerkenswert: Das Stadion ist bereits nach 70 Minuten zur Hälfte leer. Die Pole-Position im Parkhaus scheint hier wichtiger zu sein, als die Mannschaft nach einem verdienten Sieg in die Kabine zu verabschieden.

Nach Abpfiff suche ich schnell den Weg hinaus, um mich kurz noch darüber zu ärgern, dass auf meiner „Arena-Card“ noch 3,70€ Guthaben sind, die ich mir nur an völlig überfüllten Buden wieder auszahlen lassen kann. Ein Bier bekommt man dafür auch nicht. Na ja das Problem war mir auch vorher schon klar. Ich nehme mir vor, die Karte im nächsten Jahr wieder mit zu nehmen und stecke sie im Geiste schon zu den anderen vier Plastik-Karten mit Allianz-Logo, die im heimischen Bremen in einem Ordner lagern und wohl niemals nach Hause zurück kehren werden. Der Stadionvorplatz wird von der komplett in Rot strahlenden Arena erhellt – es gibt uneindrucksvollere Wege der Umwelt mitzuteilen, wer hier heute Abend gewonnen hat. Auf dem Weg zur U-Bahn frage ich mich, was wohl passieren würde, wenn der FC Bayern mal 2-3 schlechte Saisons in Folge haben sollte. Kann auch dieser Verein im Mittelmaß verschwinden? Kann ein Verein, desses Identität der pure Erfolg ist und nichts anderes zulässt, überhaupt auf eine andere Weise existieren, als ständig die Meisterschale in den Händen zu halten? Wie viele von den Menschen um mich herum würden dann noch jeden zweiten Samstag in das große Schlauchboot pilgern? Ich werde ruckartig aus meinen Gedanken gerissen, als der Sprecher an der U-Bahn Haltestelle doch tatsächlich die Humba über die Lautsprecher anstimmt. Also doch gar nicht so steif diese Bayern?

Ich fahre mit der Bahn wieder heraus aus der Stadt, ins verträumte Starnberg. Der letzte Mensch mit Trikot steigt fünf Haltestellen vor mir aus. Die beiden Rentner sind von der Bank am See verschwunden. Ich nehme ihren Platz ein und muss kurz schmunzeln, weil ich mit Blick auf mein Smartphone feststelle, dass ein Freund in unserer Kicktipp-Runde das Ergebnis genau getroffen hat. Irgendwie traurig, dass man mittlerweile mit 6:0 Niederlagen rechnen muss. Ein letztes Mal schaue ich auf den schwarzen See hinaus, ehe ich mich in mein Hotel begebe und noch einmal den Fernseher einschalte. Da sitzt Arnd Zeigler und kommentiert die Auslosung zur zweiten Pokalrunde. Werder ist nicht mehr unter den Kugeln. Ich kann mir noch immer nicht helfen: Irgendwie sieht der Mann jetzt wieder schlanker aus als heute morgen am Flughafen. Muss wohl am schwarzen T-Shirt liegen. Ich warte auf das Los der Sportfreunde Lotte. Also eigentlich unser Los. Leverkusen zuhause. Die haben wir doch letztes Jahr auch schon raus geworfen. Ich beende den Tag mit dem befriedigenden Gedanken, dass nächste Woche Länderspielpause ist. Man könnte aber auch mit der zweiten Mannschaft nach Duisburg fahren.

Die Lüftung in meinem Badezimmer geht nicht aus. Ich muss an Wayne Rooney denken, der nur mit dem Geräusch eines laufenden Föns einschlafen kann. Oder ist das eine Legende? Während ich einschlafe wird in der ARD auch das Bayern-Los gezogen: Der FC Augsburg darf nach München reisen. Auch dieser Klub wird hier höchstwahrscheinlich untergehen. An der unglaublichen Dominanz der Bayern scheitern. Und wahrscheinlich wird sich mindestens ein einsamer Augsburger die selben Fragen stellen, die heute durch meinen Kopf gewandert sind.

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